Lies das folgende Kapitel aus dem Roman »Spukhafte Fernwirkung« und nimm es als Ausgangspunkt für deinen eigenen Text. Durch Klick auf den Button hat du viermal die Möglichkeit einen neuen Textausschnitt anzufordern.
Silvana soll nicht mehr am Zeisingplatz sitzen. Es ist zu ihrem eigenen Schutz! Eine Sozialarbeiterin hat sie besucht, zusammen mit einer Übersetzerin, die Silvana auf Ukrainisch vorschlägt, in ein Frauenwohnheim zu ziehen, nur dass es da noch keine barrierefreien sanitären Anlagen gebe, aber man werde eine Lösung finden, und Silvana, die weder auf Deutsch noch auf Englisch noch auf Ukrainisch das Wort barrierefrei kennt, zuckt lustlos mit den Schultern. Was soll sie den ganzen Tag in einem Wohnheim sitzen? Das weiß die Übersetzerin nicht und die Sozialarbeiterin weiß es auch nicht. Hier bleiben kannst du aber nicht, sagt die Übersetzerin, also auf Dauer nicht, und die Sozialarbeiterin sagt, nur bis wir etwas anderes gefunden haben, aber das übersetzt die Übersetzerin nicht, sondern fragt stattdessen, ob sie vielleicht ir- gendeinen Wunsch habe, und Silvana, die das letzte Mal zu ihrem fünften Geburtstag nach einem Wunsch gefragt worden ist, sagt: Häkelzeug. Häkelzeug, fragt die Übersetzerin und Silvana nickt. Vielleicht kann sie ja hier sitzen bleiben, wenn sie häkelt, denkt sie, andere Frauen sitzen auch irgendwo und häkeln. Es gäbe dann auch kein Problem mehr mit dem Nicht-Aufschauen. Wer häkelt, kann gar nicht aufschauen, und es ist etwas anderes, es nicht zu können als es nicht zu dürfen. Jetzt zuckt die ukrainische Übersetzerin die Schultern und übersetzt das Häkelzeug der Sozialarbeiterin, die freudig lächelt und lächelnd nickt und froh ist, dass sie etwas tun kann. Häkeln ist der erste Schritt in die Integration.
In Jaroslavs Wohnung riecht es in letzter Zeit nach Parfüm, wenn er nach Hause kommt, er selbst benutzt keins, es muss also woanders herkommen. Er muss aber zugeben, dass er das Parfüm sehr gerne riecht; am ersten Abend dachte er noch, es komme von der Nachbarin, die gegenüber wohnt, dass der Wind ihren Duft von Balkon zu Balkon und dann in seine Wohnung geweht hat, er sah förmlich den Weg, den das Parfüm genommen hatte, über die Geranien, die kleine Palme, den Tisch und dann durch die geöffnete Balkontür, da bin ich. Nur dass die Nachbarin, wie sich herausstellt, seit ein paar Tagen schon im Krankenhaus ist. Jaroslav schnuppert an seiner Kleidung, manchmal fängt die Kleidung ja auch fremde Gerüche ein und konserviert sie, eigentlich auch irgendwie schön, denkt er, aber ganz wohl ist ihm dabei nicht. Nach einer Woche aber, als er abends nach Hause kommt, strömt ihm der Geruch gleich entgegen wie ein kleiner Hund, der den ganzen Tag allein war. Es muss jemand in Jaroslavs Wohnung gewesen sein. Auf dem Sofa ist ein seltsamer Fleck, der gestern noch nicht da war. Jemand hat die Salami im Kühlschrank aufgegessen. Die Verpackung liegt noch auf dem Küchentisch. Jaroslav hört, wie der Wasserhahn im Bad tropft. Es ist das einzige Geräusch in der Wohnung.
2014
Pinakothek
Seit Frederic Bonta dabei ist, geht es aufwärts. Susana weiß gar nicht, wer ihn angeschleppt hat, aber er hat etwas in die Gruppe eingebracht, das wichtiger ist als politische Überzeugung und Leidenschaft, und dieses etwas heißt: Mathematik. Frederic hat Ahnung von Zahlen. Er schreibt an einer Masterarbeit über den Lorentz-Attraktor, nie gehört, hat Susana gesagt, was ist das? Frederic hat sie ein bisschen ungläubig angesehen, als könne er nicht glauben, dass es einen Menschen auf der Welt gibt, der den Lorentz-Attraktor nicht kennt, und als er sich damit abgefunden hat, lehnt er sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf und streicht durch seine Haare und streicht sie zu einem Zopf zusammen und sagt: Aber vom Schmetterlingseffekt hast du schon mal gehört, oder?, und zwingt Susana ja zu sagen, und leider kann man, und auch Susanna nicht, auf solche Fragen nicht anders antworten als kleinlaut, selbst wenn man eigentlich alles andere als kleinlaut ist. Natürlich hat sie schon mal vom Schmetterlingseffekt gehört. Na siehst du, sagt Frederic und dreht seine Haare zu einer Spirale und sagt, und den kann man ausrechnen und dann weiß man, wo auf der Welt welche Ernten zu erwarten sind, und kann den Leuten bei der Landwirtschaft helfen. Und wie? Indem man ihnen sagt, was sie wo und wann auf keinen Fall anbauen sollen, und mit viel Glück sogar was stattdessen. Aha, sagt Susana und findet, dass sich das leider ziemlich gut anhört.
Und obwohl Susana den Typ nicht leiden kann, setzt sie sich dafür ein, dass er in der Gruppe bleiben wird, denn Susana geht es um das Inhaltliche und nicht um Emotionen. Emotionen muss man sich leisten können, aber die Welt kann sich keine Emotionen leisten, nicht, wenn sie nicht untergehen will. Und wie anders soll man Hungersnöte und Missernten verhindern, wenn nicht strategisch, und um strategisch handeln zu können, muss man rechnen können. Blöd nur, dass sie selbst sich mehr für Kunst als für Mathematik interessiert, und sie muss daran denken, wie Carlo sie immer mit ins Deutsche Museum schleppen wollte, sie aber lieber Bilder und Gemälde in der Alten Pinakothek anschauen wollte. Gut, denkt Susana, dass man älter wird und lernt, sich für beides zu interessieren, für Mathematik und für Kunst. Nur beides zusammen kann die Welt retten. Wobei die Weltrettung an sich natürlich unwahrscheinlich ist, aber solange man nichts Genaueres weiß, sollte man es wenigstens versuchen. Und du schreibst über die Wahrscheinlichkeit von Missernten, fragt Susana ihn und Frederic sagt, nein, ich schreibe über aussterbende Textilgattungen wie zum Beispiel Krawatten, aber meine Rechenmodelle kann man auch auf Missernten übertragen. Ah, sagt Susana. Demnächst, sagt Frederic, dessen Haare jetzt in der Spirale verschwunden sind, und holt seine langen Arme langsam wieder aus ihrer erhobenen Position herunter, gründe ich ein Start-Up und da biete ich euch eine Zusammenarbeit an.
2015
20 Prozent
Ahri Shiwon wacht auf von der Musik, sie liebt diese Melodie, diese süße Melodie, die ihr Herz froh und traurig zugleich macht. Es ist ihr Lieblingslied und der Morgen ist ihre Lieblingstageszeit und heute ist auch ihr Lieblingstag, weil sie nicht zur Arbeit muss. Ahri hat Glück, denn heute soll der heißeste Tag des Jahres werden, ohne Regen oder zumindest mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 22 Prozent, weswegen sie nun ihr Bettzeug nimmt und sich auf den weichen Boden hinter das Haus legt. Ahri Shiwon liebt es, wenn die Sterne am Himmel langsam verblassen und die Sonne sich unter die Wolken schiebt. Viele der Sterne, die sie am Himmel sieht, sind längst erloschen. Sie existieren gar nicht mehr. Genau genommen existieren sie in ihrer eigenen Zeit nicht mehr und Ahri Shiwon fasziniert der Gedanke, dass auch sie selbst in ihrer eigenen Zeit nicht mehr existiert, aber noch sichtbar ist für andere Wesen, für Wesen, die in ihr einen Stern am Himmel sehen. Solange du ein Stern am Himmel bist, existierst du noch. Ahri Shiwon beschließt, diesen poetischen Satz gleich nach dem Frühstück aufzuschreiben, aber dann schläft sie wieder ein, und der Satz erlischt wie ein Stern am Himmel.