Lies das folgende Kapitel aus dem Roman »Spukhafte Fernwirkung« und nimm es als Ausgangspunkt für deinen eigenen Text. Durch Klick auf den Button hat du viermal die Möglichkeit einen neuen Textausschnitt anzufordern.
Von den sieben Büchern, die Siri nach dem Ende ihrer Schullaufbahn der Bibliothek des Marie-Curie-Gymnasiums schenkt, handeln sechs von Weltrekorden und eins von Sonnensystemen, Lichtgeschwindigkeiten und warum die Zeit nur in eine einzige Richtung vergehen kann. Solche Sachen. Das Buch ist kindgerecht geschrieben, wird aber dennoch nur zweimal ausgeliehen, einmal von einer Schülerin der 10b namens Gülsen und einmal von Wanja aus der 9c, dessen Lieblingsfach Erdkunde ist. Beide lesen das Buch in einer astronomischen Geschwindigkeit durch und werden erst spät, etwa im Alter von Mitte 30, lernen, dass die überwiegende Mehrheit ihrer Mitmenschen keine Ahnung von astrophysikalischen Zusammenhängen hat. Weder Gülsen noch Wanja werden jemals den Wunsch verspüren, die Ahnungslosen aufzuklären. Sie brauchen doch nur das Buch zu lesen, denken
sie, unabhängig voneinander, denn die beiden haben sich zwar jahrelang auf dem Schulhof gesehen, aber keinerlei Berührungspunkte.
Gülsens Lieblingskapitel ist das über die Epagomene, und die Tatsache, dass bereits die Ägypter mit Schalttagen operierten, bestärkt sie in der Überzeugung, dass sicherlich jeder Mensch schon darüber nachgedacht hat, wie man das Problem Zeit mit dem Problem Nacht in Einklang bringt. Wanjas Lieblingskapitel ist das über die schwarzen Löcher, in denen die Zeit verschwindet. Einmal versucht er seinem Banknachbar Jens den Unterschied zwischen einem Wurmloch und einem Schwarzen Loch zu erklären; das Gespräch endet damit, dass Wanja Jens’ Federmäppchen aus dem Fenster wirft. Danach sind sie keine Freunde mehr. Weil das Buch so selten ausgeliehen wird, sortiert
es der Schulbibliothekar aus und spendet es der Bibliothek einer Jugendpsychiatrie.
Erika und die Frau haben gemeinsam den Film bis zum Ende angeschaut. Der Mann überlebt, die Frau nicht. Wie bei Boris und mir, denkt Erika, nur andersrum. Das Bild wackelt ein bisschen, dann kommt die Tagesschau. Die Frau schaltet den Fernseher aus. Branka, sagt sie. Danke für den Tee. Erika nickt. Sie nippt an ihrer Tasse, der Tee ist schon fast kalt. Könnten Sie, fragt Branka und räuspert sich. Könnten Sie jemanden gebrauchen, fürs Haus oder so. Erika zuckt die Achseln. Was soll sie darauf antworten? Sie hat Angst, etwas zu sagen. Sie hat Angst, dass, wenn sie etwas sagt, die Situation kippen könnte. Sie weiß nicht, warum. Nur so ein Gefühl. Ich kann das Dach reparieren, sagt Branka. Oder mal was kochen. Erika sagt nichts. Sie braucht niemanden, der ihr Dach repariert, das Dach ist vollkommen in Ordnung. Kochen kann sie selber. Sie hat nichts gegen die Frau, aber sie möchte, dass sie jetzt wieder geht. Als ob Branka ihre Gedanken gelesen hat, sagt sie, ich weiß nicht, wohin. Erika steht auf. Sie legt die Silberlöffel auf die Untertassen und die Untertassen mit den passenden Tassen und den Silberlöffeln auf das Tablett neben die Zuckerdose. Branka hat ihren Tee ohne Zucker getrunken, Erika auch. Sie trägt das Tablett in die Küche. Sie spült das Geschirr, trocknet es ab und räumt alles zurück in den Schrank. Die Silberlöffel legt sie wieder in die Schublade zum Silberbesteck. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrt, steht Branka vor ihr. Sie ist wirklich sehr groß. Über das schwarze T-Shirt hat sie eine grüne Lederjacke gezogen. Sie riecht nicht gut, ein bisschen säuerlich, wie kleine Welpen, wenn sie von der Mutter getrunken haben und aufstoßen. Blöde Alte, sagt Branka und schubst Erika ein bisschen zur Seite. Erika plumpst aufs Sofa. Branka tritt zum Abschied mit dem Fuß in die Glastür, so konzentriert und gezielt, als habe sie die ganze Zeit nur auf diesen einen Moment gewartet. Dann geht sie. Kalte Luft strömt in die Wohnung. Erika hört den Storch klappern, der wohnt bei den Nachbarn auf dem Dach. Erika wartet ein paar Minuten, dann steht sie auf, geht zurück ins Schlafzimmer und legt sich hin. Den Morgenrock von Boris behält sie an.
Die Struktur der Zeit nennt man deterministisches Chaos, denn man kann die Zeit zwar vorhersehen, also ihre Struktur, aber nicht, wie diese Struktur genau aussieht, also wie die Bahnen der Zeit genau verlaufen, sagt Frederic, und die Mitarbeiter nicken und schenken sich ein Glas Wasser ein oder einen Kaffee, nur dass der Kaffee nicht besonders schmeckt, es ist Kapselkaffee mit Whiskeygeschmack aus dem Kaffeekapselgeschäft im Einkaufszentrum. Frederic schaut aus dem Fenster, heute kann man leider nicht weiter schauen als bis zum Wäldchen, das Lasslingen vom Fluss trennt, Frederic findet diese Diesigkeit irgendwie anstrengend. Man kann aber sagen, fährt er fort, dass die Bahnen der Zeit in bestimmten Kurven verlaufen. Beispielsweise kann man sagen, ein Mensch hat eine bestimmte Lebenserwartung, denn er hat eine Disposition für bestimmte Krankheiten, so und so gesund gelebt und wohnt in einem wohlhabenden Viertel. Oder seine Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu bekommen, ist aufgrund seiner biologischen, sexuellen und sozialen Disposition wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, man kann sagen, es wird Sommer, Herbst, Frühling, Winter werden, aber wie kalt und wie viel Regen und Sturm und Tornados und wann und was sie verursachen, das kann man eben nicht genau sagen. Und wie viel Hochwasser, sagt Sahra, die an einer Wasserphobie leidet. Genau, sagt Frederic und riecht Sahras Parfüm, zumindest wird ihm der Geruch ihres Parfüms in diesem Augenblick bewusst. Wenn man zurückgehen würde, wie bei einer Zeitreise, könnte man ein einzelnes Ereignis punktuell verändern, aber man wüsste ja nicht, was das diesem veränderten Ereignis folgende Ereignis gewesen wäre, das man dann eigentlich auch hätte verändern müssen, um nicht nur ein Ereignis, sondern vielleicht eine ganze Reihe von Ereignissen zu verändern, und man wüsste nicht, was diesen veränderten Ereignissen nachfolgen würde, ob es nicht vielleicht noch schlimmer kommen würde. Sagen wir, sagt Frederic, jemand hätte Hitler umgebracht, das ist ja ein Gedankenspiel, das immer wieder gerne durchgespielt wird, wer weiß, ob danach der Nationalsozialismus wirklich zu Ende gewesen wäre oder nicht am Ende noch brutaler, noch grauenhafter geworden wäre, sagt Frederic und Sahra sieht jetzt noch unglücklicher aus. Wobei man sich das ja gar nicht vorzustellen vermag, weswegen das ein schlechtes Beispiel ist, fügt er schnell hinzu. Bei Sahra weiß man nie, er überlegt schon länger, ihr zu kündigen. Aber vielleicht kann man sich vorstellen, dass er nicht nur zwölf Jahre, sondern fünfzig Jahre gedauert hätte, sagt Frederic, und Wanja meldet sich wie in der Schule und sagt, Stephen Hawking hat nachgewiesen, dass Wurmlöcher instabil sind und dass ihr Zusammenbruch nur mit exotischer Materie zu verhindern ist, und Frederic weiß, dass Wanja das bei Wikipedia gelesen hat, weil er selbst es hineingeschrieben hat, und irgendwie ist er gerührt, auch wenn Wanja sich mal wieder nur einschleimen möchte.
Gleich nach der Konferenz hat Louise den Vertrag unterschrieben, es ist der erste Vertrag ihres Lebens, den sie unterschreibt, es fühlt sich komisch an, auf einmal hat sie eine Verbindung zu einem Gegenüber, das keine Person ist, sondern ein Gebilde, und sie weiß nichts über das Gebilde. Es wird vertreten von jemandem, den sie nicht kennt und der gar nicht weiß, dass es sie gibt, so wie die meisten Menschen nicht wissen, dass es Louise gibt, nur dass sie mit den meisten Menschen keinen Vertrag geschlossen hat. Den Praktikumsplatz hat Leni ihr besorgt, ich frag mal meine Mutter, hatte Leni gesagt, und einen Tag später: Wir geben dich als meine Cousine aus, die Sache geht klar. Noch nie zuvor in ihrem Leben war Louise eine Cousine, ihre Familie besteht aus Generationen von Einzelkindern. Cousins und Cousinen machen um diese Familie einen Bogen wie der Teufel ums Weihwasser. Es fühlte sich einen Tag lang an, als gehöre sie nun zur Familie, nur dass sie nicht mit Nachnamen Sollinger heißt, sondern anders, ist aber kein Problem, als Cousine kein Problem. Vieles ist kein Problem, wenn man Cousine ist. Und tatsächlich hatte sie schon bald ein Vorstellungsgespräch bei Valentina, die fahrig und unkonzentriert wirkte und überhaupt kein Interesse zu haben schien an Louise, aber am nächsten Tag kam die Zusage und heute ist es genau zwei Wochen her, dass sie im Team ist. Und seitdem hat sie jeden Morgen das Gefühl, dass sie gleich wieder entlassen wird, weil sie immer noch nicht den Vertrag unterschrieben hat. Sie hätte es Leni sagen können, aber irgendwie geht das auch nicht. Aber jetzt ist ja alles gut. Vertrag ist Vertrag. Louise ist Cousine.
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